Mittwoch, 31. Juli 2013

Rückzug am Beinn Alligin

In aller Regel, versuche ich meine Wanderungen recht zügig nach der Heimkehr zu bloggen weil dann die Erinnerungen und Eindrücke auch in Details noch sehr präsent sind. Diesmal war es ein wenig anders, denn ich habe recht lange darüber nachgedacht, ob ich diesen Blogeintrag überhaupt schreiben will, und was wohl der Inhalt sein würde. Denn diesmal gibt es nur wenige Eindrücke von tollen Landschaften im üblichen Sinne, keine lauschigen Waldpfade und sanfte Hügel – es gibt zudem auch nur sehr wenige Fotos. Diesmal wird es rau, stürmisch und vordergründig ein wenig beängstigend – was in keinster Weise bedeuten soll, dass wir keinen Spaß gehabt hätten, nur irgendwie … anders.

Vor einer knappen Woche hatten wir uns aufgemacht unseren ersten Munro zu besteigen und mussten, nachdem uns ein Gewitter einen gehörigen Schrecken versetzt hatte, noch beim Aufstieg auf den Ridge abbrechen. Heute hatten wir uns, nach eingehender Konsultation der Wetterlage, aufgemacht um den nächsten Versuch zu starten. Gut gerüstet und verpflegt, starteten wir um kurz vor elf vom Wanderparkplatz an der Mitte des Outer Loch Torridon in Richtung Aufstieg. Da wir die Umgebung bis dorthin schon von unserem ersten Versuch kannten, wurde nicht fotografiert, und dank unseres zügigen Tempos, saßen wir bereits nach einer Stunde am Fuße des Berges bei einer kleinen Rast.

Von Gewittern war weit und breit nichts zu sehen, allerdings lag auch die Wettervorhersage mal wieder ziemlich daneben, denn die Sonne lugte nur selten, und nur an wenigen Stellen durch die Wolkendecke. Der Berg, den wir vor uns hatten, lag – wie auch schon bei unserem ersten Besuch – in ziemlich dichten Nebel gehüllt. Allerdings wehte ein frischer bis kräftiger Wind, der die Wolken- und Nebelfetzen schnell um die beiden Gipfel trieb. Wir hofften darauf, dass sich der Nebel in wenigen Stunden verziehen würde.

Mit frischem Mut machten wir uns an den Aufstieg und erkletterten zügig und sicher das erste, steile Stück in Richtung Ridge. Die Kids kletterten sehr konzentriert, gewandt und mit der nötigen Portion Vorsicht die mitunter einen knappen Meter spannenden Stufen aufwärts. Ungefähr auf 500 Metern Höhe, knapp oberhalb der Stelle, an der wir unseren ersten Versuch abgebrochen hatten, bekamen wir einen etwas längeren, leichten Schauer ab, der in Verbindung mit dem Wind ein wenig unangenehm war. Hinter einem größeren Felsen suchten wir Schutz vor den seitlich aufschlagenden Regentropfen und legten eine kurze Essenspause ein.

Nachdem sich der Regen verzogen hatte, ging es weiter, nun über etwas einfacheres und flacheres Terrain. Wir begegneten einem Mann der mit seinem ca. 10-jährigen Sohn die Strecke in umgekehrter Richtung zurücklegte. Wir befragten ihn nach dem weiteren Wegverlauf und bekamen die Antwort: „The way that you have already passed is by far the steepest part, the rest is easy“. Hm, das klang ja viel versprechend. Wie das Wetter auf den Gipfeln denn wäre, wollten wir natürlich auch wissen. „Oh, just the same as it is here. I´ve been up on this mountain for the second time now, but I never saw the ground!”. Hm, nicht so dolle, also. Dennoch zogen wir weiter in Richtung der Nebelgrenze, deren erste Ausläufer uns schon umwaberten. Der Nebel gestaltete sich von innen gar nicht so undurchsichtig wie es von außen anmutete. Die Sichtweite lag irgendwo zwischen zwanzig und dreißig Metern, und da der Pfad immer noch einwandfrei zu erkennen war und wir außerdem den Track auf dem GPS-Gerät hatten, drohte keine Gefahr sich zu verlaufen. Der Wind war inzwischen deutlich kräftiger und wir hegten die leise Hoffnung, dass er das Nebelwetter bald vertreiben könnte - zunächst half er aber schon einmal dabei, die nassen Hosenbeine wieder zu trocknen.

So erreichten wir tatsächlich kurze Zeit später den Ridge auf ungefähr 750 Metern Höhe und begegneten dort einer weiteren, vierköpfigen Wandergruppe. Sie hätten sich dieses Mal den Weg über die Horns (das sind drei kleinere Felserhebungen auf dem Ridge) erspart und wären stattdessen auf dem schmalen Pfad südlich des Grats gewandert. Der Pfad sei hier und da etwas schlammig und nur ca. 30 Zentimeter breit, aber in jedem Fall einfacher zu begehen als der Kletterpfad über die Horns. In jedem Fall würde man das „up and down“ vermeiden und trotzdem rechtzeitig wieder auf den Hauptpfad zum Sgurr Mhor treffen. Wir bedankten uns, wünschten einen guten Tag und setzten unseren Weg in Richtung Gipfel fort. Ein ca. 45-jähriger Mann aus der Gruppe nickte mir kurz noch zu und raunte mir zu: „Watch your steps!“. Dann zogen die vier weiter in Richtung Abstieg. Rückblickend wird mir klar, dass dieser knappe Satz des Wanderkollegen mich bereits ein wenig in Alarmbereitschaft versetzte. Ich ermahnte die Kids noch einmal nachdrücklich, sich sehr aufmerksam auf den Weg zu konzentrieren und setzte mich ausnahmsweise an den Kopf unseres kleinen Zuges um den vor uns liegenden Weg zu erkunden.

Die Nebelsuppe war unterdessen noch etwas dichter geworden. Zwar war immer noch reichlich Sicht vorhanden, allerdings nun nur noch ca. 15 Meter weit. Der wirklich sehr schmale Pfad wand sich ca. 10 bis 20 Meter unterhalb des Ridge am Hang vorbei, der links von uns mit ungefähr 50° abfiel. Die Schwierigkeit des Pfades war, abgesehen von ganz wenigen, einfachen Kletterstellen, ein Klacks und die Passage eigentlich völlig ungefährlich. Nur der ungewisse, durch den Nebel überhaupt nicht einsehbare Abgrund gab dem Ganzen einen etwas unheimlichen Touch, der vor allem bei meiner Liebsten eine leichte, aber nicht zu vernachlässigende Höhenangst auslöste. Auch meiner ältesten Tochter wurde es etwas mulmig zumute. Behutsam und vorsichtig setzten wir den Weg fort. Nach einer Weile erreichten wir wieder den etwas breiteren Hauptpfad und schließlich ein kleines Joch vor dem Aufstieg zum Sgurr Mhor. Hier herrschte, im Gegensatz zum bisherigen Wegverlauf, fast völlige Windstille. Da es zudem nicht regnete ein ausgezeichneter Platz für eine kleine Rast. Laut GPS-Track musste der erste Gipfel nun unmittelbar vor uns liegen. Wir packten unsere Rucksäcke, verließen den Rastplatz in Richtung Westen und erblickten nach wenigen Schritten den felsigen Weg nach oben.

Hier nun erhält unsere kleine Geschichte die, bei genauerer Betrachtung, nicht unvorsehbare Wendung. Beim Anblick des felsigen Aufstiegs zum Gipfel, der sich da so langsam aus dem Nebel schälte, bekam ich ein irgendwie seltsames Gefühl in der Magengegend. Da ich gelernt habe, mein Bauchgefühl nicht zu ignorieren, hielt ich inne und schaute mich zum Rest der Gruppe um. Der Ausdruck in den Gesichtern sprach eine allzu deutliche Sprache – so richtig überzeugt war von unserem Vorhaben offensichtlich niemand mehr. Während ich noch versuchte, mein „gutt feeling“ zu deuten, fragte ich in die Runde, ob wir weitergehen sollten. Die Antwort war so gut wie einstimmig: Abbruch! Die Tatsache, dass wir durch den Nebel überhaupt keine Chance hatten den weiteren Wegverlauf über die nächsten paar Meter hinaus zu beurteilen, die deutlich gesunkene Moral der Expeditionsteilnehmer und die mittlerweile doch schon vorgerückte Stunde machten mir die Entscheidung ziemlich leicht. Wir blieben noch eine kurze Weile auf dem Joch um die Tatsachen zu verdauen. Aus Richtung des Gipfels näherten sich Stimmen. Eine weitere Wandergruppe, die den Weg über die beiden Gipfel gerade hinter sich hatte. In dem folgenden, kurzen Gespräch brachten wir in Erfahrung, dass die Sicht sich auch auf dem Gipfel nicht ändern würde. Wir ließen der Gruppe noch ein wenig Vorsprung und machten uns, etwas niedergeschlagen, auf den Rückweg.

Die Stimmung besserte sich erst wieder merklich, als wir den Rand des Abstiegs ins Tal, und damit auch die Nebelgrenze wieder erreichten. Hier trafen wir abermals auf eine andere Wandergruppe, die sich auf dem Sattel niedergelassen hatte um mit Karte und GPS einen Weg hinab zu planen. Ein drahtiger Vierziger der mit drei Jugendlichen auf einer kleinen Klettertour unterwegs war. Wir hielten einen netten Plausch, sammelten noch ein paar Tipps zu etwas leichteren Munro-Touren und schickten uns an, den Hang zwischen Tal und Ridge zum vierten Mal zu passieren.

Der Abstieg ging zügig und sicher vonstatten, wenn uns auch die zuletzt angetroffene Wandergruppe recht schnell ein- und auch überholt hatte. Drei Kilometer und einen kleinen Regenschauer später, erreichten wir wieder den waldigen Abschnitt in der Nähe des Wanderparkplatzes. Spätestens hier, im fast windstillen Tal, bewährten sich die Moskitonetze die wir am vorvergangenen Tag in einem Outdoorshop in Edinburgh gekauft hatten. Bis wir am Auto ankamen, hüllten dichte Mückenwolken unsere gut geschützten Häupter ein. Mittlerweile strategisch erfahren in der Ungezieferabwehr, brauchte es nur wenige Handgriffe um das Gepäck in den Kofferraum zu befördern, die Schuhe zu wechseln und im Wagen Platz zu nehmen. Dann traten wir, die Fenster weit geöffnet, damit die Zugluft die eingedrungenen Mücken vertreiben konnte, die Rückfahrt nach Erchless Castle an.

Wenn ich abergläubisch (oder gläubig, oder was auch immer) wäre, wäre ich möglicherweise zu der Überzeugung gelangt, dass irgendeine höhere Macht nicht will dass wir auf diesen Berg steigen. Da ich mir aber einbilde mit beiden Beinen auf dem Boden der Realität zu stehen, sehe ich es als das was es wahrscheinlich war: der falsche Ort zur falschen Zeit, oder vielleicht ganz schlicht, schlechtes Wetter. Was mich allerdings immer noch beschäftigt, ist dieses seltsame Bauchgefühl, dass sich in mir beim Anblick des Aufstiegs zum Sgurr Mhor ausgebreitet hatte. Obwohl die gesamte Tour zu keiner Zeit wirklich bedrohlich war - alle sind umsichtig und sicher geklettert, wir hatten keine Gefahr uns zu verlaufen, genügend Proviant und Wasser dabei und das bis dahin passierte Terrain war nüchtern betrachtet eher ungefährlich - hatte ich an diesem Punkt plötzlich und völlig unerwartet einen Heidenrespekt vor dem bekommen was da vielleicht noch auf uns warten würde. Rückblickend ist mir allerdings klar geworden, dass wir zu diesem Zeitpunkt definitiv am Limit angekommen waren, und das nicht mal physisch, sondern viel eher mental. Unsere Kraft hätte vermutlich locker gereicht für den weiteren Weg über die beiden Gipfel und auch für den Abstieg auf der anderen Seite, aber weitere Unsicherheiten oder andere, zusätzliche Belastungen, hätten uns vielleicht in eine bedrohlichere Situation bringen können. Vermutlich war dieses Gefühl in meinem Bauch ganz einfach die Angst vor Überforderung.

So bin ich heute, nach einem Tag Abstand, wieder mit dem Beinn Alligin versöhnt. Es tut mir nicht leid, dass wir die Tour abgebrochen haben – es hätte ja sowieso nichts zu sehen gegeben und die Höhenmeter-Statistik kann man auch anders befüllen. Vielmehr bin ich sehr dankbar dafür, dass meine Instinkte offenbar noch gut funktionieren, und mir im vermutlich entscheidenden Moment den richtigen Impuls geben konnten. Mein höchster Respekt gebührt vor allem meinen Wandergefährten, in Person meiner beiden Töchter, die mich, wenn´s nach draußen geht, immer wieder aufs Neue mit ihrer unfassbaren Power zu überraschen wissen, meiner nervenstarken Liebsten, die ihre aufkeimende Höhenangst trotz der unheimlichen Situation gut in den Griff bekam und nicht zuletzt ihrem Sohn, der uns heute vor allem auf dem ersten Teil des „Rückzugs“ eine große Hilfe war, weil er beständig und aufmerksam dafür sorgte, dass wir nicht zu weit auseinander fielen, während ich das Schlusslicht bildete.

Ein paar Tage bleiben uns noch, aber die Wettervorhersage ist nicht gerade rosig, so dass wir wahrscheinlich keinen weiteren Versuch mehr starten werden, einen Munro zu erobern. Aber so wie es aussieht, war das nicht unser letzter Urlaub in Schottland.

Ich wünsche Euch allen eine gute Zeit, und dass Eure Sinne immer wachsam bleiben mögen.
Stay tuned …
k0erschgen










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